Grundsatzentscheidung des Bundessozialgerichts (Mai 2024): Behinderungsbedingte Fahrtkosten für den Schulweg müssen von der Eingliederungshilfe bezahlt werden
Schüler*innen, die wegen ihrer Beeinträchtigung den Schulweg nicht alleine zurücklegen können, haben einen Anspruch auf volle oder ergänzende Kostenübernahme (z. B. für ein Taxi) durch die Träger der Eingliederungshilfe. Das Bundessozialgericht hat eine Grundsatzentscheidung des Landessozialgerichts NRW am 08.05.2024 bestätigt und die Revision dagegen zurückgewiesen.
Bisher wurden Eltern von behinderten Kindern, die eine inklusive Schule besuchen, zumeist darauf verwiesen, dass sie ihre Kinder lt. Schulgesetz selber zur Schule bringen und abholen müssen. Die Einrichtung eines Schülerspezialverkehrs blieb nur wenigen Fällen vorbehalten, wenn die Eltern durch Arbeitgeberbescheinigungen nachweisen konnten, dass sie beruflich nicht in der Lage dazu sind. Eltern, die im Rahmen von Gleitzeit ihren Arbeitsbeginn flexibel beginnen können hatten keine Chance darauf. Gleiches gilt für Selbstständige, weil sie sich “selbständig” die Arbeit einteilen könnten, so die restriktive Logik der Schülerfahrkostenstellen. Viele Eltern mussten deswegen ihre Arbeitszeit verkürzen oder ganz aufgeben, damit der Schultransport durch sie sichergestellt werden konnte. Demgegenüber haben Schüler*innen von Förderschulen in der Regel gleich den Fahrdienst mit der Schulanmeldung inkludiert bekommen.
Begründung des Bundessozialgerichts für die Ablehnung der Revision des Urteils vom Landessozialgerichts NRW vom 15.12.2022:
Zitat: „Die 2006 geborene Klägerin besuchte ein Gymnasium. Wegen einer Beeinträchtigung der Gelenkbewegung war es ihr nicht möglich, die 1,1 Kilometer vom Elternhaus entfernte Schule mit dem Fahrrad oder zu Fuß zu erreichen. Ihre Eltern organisierten im Schuljahr 2017/2018 die Hin- und Rückfahrten der Klägerin (wie während der Grundschulzeit) mit einem Taxi und wendeten hierfür 2240 Euro auf. Die Gemeinde als Schulträgerin erstattete für den Besuch der weiterführenden Schule lediglich eine Kilometerpauschale von 13 Cent, insgesamt rund 60 Euro. Die Übernahme der verbleibenden Differenz, die die Klägerin als Eingliederungshilfe geltend machte, lehnte der Beklagte vor Schuljahresbeginn ab, weil es allen Eltern selbst obliege, ihren schulpflichtigen Kindern die Teilnahme am Unterricht zu ermöglichen. Unterstützung hierfür sei jedenfalls beim Vorhandensein von zwei Kraftfahrzeugen in der Familie (wie hier) nicht auf Kosten der Sozialhilfe zu leisten. Die Klage hat beim Sozialgericht und beim Landessozialgericht Erfolg gehabt. Bei den Aufwendungen handele es sich um eine Eingliederungshilfe zur Teilhabe an Bildung. Kinder im Alter der Klägerin legten typischerweise den Schulweg allein zurück, weswegen auch die Klägerin nicht darauf verwiesen werden könne, sich von den Eltern zur Schule fahren zu lassen.“ (Verhandlung B 8 SO 3/23 R)
Damit bestätigen die Richter*innen des Bundessozialgerichts das Urteil und die Begründung des Landessozialgerichts NRW vom 15.12.2022 (L 9 SO 240/21).
Tipps:
- Beantragen Sie frühzeitig mehrere Monate vor Schuljahresbeginn die Übernahme der Fahrkosten oder Einrichtung eines Schülerspezialverkehrs bei der zuständigen Stelle des Schulträgers. Darüber informiert Sie die Schule Ihres Kindes.
- Machen Sie sich Gedanken wie der Schulweg hin und zurück tatsächlich bewerkstelligt und organisiert werden kann. Holen Sie ggf. Kostenvoranschläge von Taxi- oder Busunternehmen ein.
- Nach Erhalt einer Ablehnung oder nicht bedarfsdeckenden Leistungsbewilligung stellen Sie einen ergänzenden Antrag gem. § 112 SGB IX beim Sozialamt, bei seelischen Behinderungen beim Jugendamt.
- Bitten Sie um eine Entscheidung innerhalb der gesetzlichen Fristen des § 14 SGB IX.
Die Regelungen des Sozialgesetzbuchs IX und des Sozialgesetzbuchs VIII gelten bundesweit einheitlich. Die Schülerfahrkostenverordnung aus NRW, die im genannten Fall zugrunde gelegt worden ist, gilt nur in Nordrhein-Westfalen. Jedes Bundesland hat eine eigenständige Regelung dafür.
Quelle: ASBH Newsletter 06/2024